Montag, 15. Oktober 2018

...letzte Station: Leben


So könnte die Geschichte eines unserer Hühner ausgesehen haben...

Das hier ist die Hölle! 
Es muss die Hölle sein, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendwie schlimmer sein könnte. Wir sind hunderte ja wahrscheinlich sogar tausende. Zahlen, die meinen kleinen Verstand übersteigen, selbst wenn ich zählen könnte. Das alles hier übersteigt, was ich zu verstehen im Stande bin; der Lärm, der Dreck, die Angst, der Schmerz...

Ich hacke um mich, aus Reflex, aus Panik, um nicht gehackt zu werden. Ich habe kaum noch Federn am Leib, ich friere, ich weiß nicht warum, es ist so verstörend. Es ist dunkel hier drin und stickig, ich habe Durst. Da ist ein großes Tor, draußen ist es hell und warm, aber es gibt dort keinen Schutz, keine Bäume keine Sträucher - nicht das ich wüsste was das ist, aber mein Instinkt sagt mir, dass sonst Gefahr von oben droht, also gehe ich da nicht raus. Deshalb und wegen dem dünnen silbernen Ding, was die großen aufrecht gehenden Wesen, diese "Menschen" dort gespannt haben. Einige von uns haben es versucht, sind dagegen gekommen mit ihren Füßen, es hat furchtbar geknallt und geblitzt... und gestunken, sie wurden fast verrückt davon. Wir sehen das, was sie Freiheit nennen, doch erreichen können wir sie nie. Der Boden dort "draußen" sieht weich aus und verlockend, gespürt habe ich ihn noch nie. Hier drin ist alles hart und kalt. Ich habe gehört es sei "Betonboden" ... und darum nennen Sie es "Bodenhaltung".
Es sei artgerecht heißt es, ich weiß nur nicht für welche Art...

Seit ich denken kann legen wir alle hier Eier, massenweise Eier, jedes mal wenn es hell draußen wird lege ich eines, es geht fast automatisch, immer wieder, dauernd, ohne Pause, könnte ich zählen, könnte ich sie nicht zählen, so viele sind es. Nur seit ein paar mal hell und dunkel wurden es weniger, nicht mehr bei jedem hellen Schein kam ein Ei aus mir heraus. Da ist merkwürdig, denn nichts hat sich hier verändert, nur die Eier, meine Eier werden weniger.
Meine Schwestern gackern: "Sie werden Dich bald holen", "Du bist es nicht mehr wert", "Du hast... ausgedient". Ich weiß nicht was das heißt, aber es macht mir nur noch mehr Angst, eine Angst, eine Panik von vielen, keine Federn mehr da, die ich deshalb verlieren könnte.

DA, SIE KOMMEN! Direkt auf uns zu! Weg, nur weg! Links, rechts, links, ich schreie so laut ich kann - als würde es irgendetwas an dem infernalischen Lärm hier drin ändern. Ich kann nicht anders, mein Herz rast, ich habe Panik!
Dann plötzlich - Starre! Halt, nicht bewegen, nicht zucken, liebes Herz hör´nicht auf zu schlagen. Die riesigen Hände haben sich um mich geschlossen. Was jetzt? Was jetzt?

Enge! So eng, so unvorstellbar eng. Die Hölle ist die Selbe, nur enger, viel enger. Wir sitzen eng gepresst, Flügel an Flügel, nackte Brust an nackter Brust, Schnabel an Schnabel. Manche schreien, manche Hacken, ich bleibe still, es ist zu viel, einfach zu viel.
Es wackelt, es holpert, es neigt sich hin und her, könnte ich Gleichgültigkeit fühlen, es wäre mir gleich, wir können hier drin nicht fallen, es ist zu eng, und heiß und trocken, ich habe solchen Durst, ich bin ausgetrocknet, und es ist dunkel und es ist endlos...

Halt! Plötzlich hört das schaukeln auf. Stille - Unheil verheißende Stille, kommt jetzt die nächste Hölle - wie sollte das gehen?
Licht! Aus der Großen Kiste die uns alle umgibt, in der so viele kleine Kisten mit so vielen von uns gestapelt waren, wird eine dieser Miniaturpferchhöllen nach der anderen weggenommen, es wird immer heller hier drin und wenigstens ein bißchen Luft kommt herein. Ich bin so durstig, so müde, so resigniert, aber vor allem durstig. Mein Instinkt schreit mich an in Panik davon zu laufen, aber wohin? Ich bin so durstig. Wir stehen ganz unten, ganz hinten, ganz am Ende - das Ende, sieht es so aus? Wie unspektakulär!

Wieder Hände, diese erbarmungslosen Hände, kein Entkommen, kein Entrinnen, keine Kraft. Raus aus dem einen Pferch hinein in den nächsten.
WAS IST DAS? Es rutscht, es knirscht, es... es ist ... weich. Was ist das unter meinen Füßen? Ich habe das noch nie gespürt, doch so muss sich "Stroh" anfühlen. Es ist nicht viel in diesem Pferch, aber es fühlt sich gut an. Auch ist es hier drin nicht ganz so eng. Ich kann mich drehen, aufrichten, die Decke ist... höher! Wieder werden wir in einen Kasten gestellt doch nun viel weniger von uns. Könnte ich zählen würde ich sagen um die zwei, drei Kästen, alle größer, alle mit Stroh, alle nicht so voll.
Wieder beginnt es zu schaukeln, doch nicht mehr so stark, nicht mehr so ruppig, ich höre ruhige Stimmen. Wir alle werden ruhig, nicht weil wir keine Angst mehr hätten, sondern weil wir nicht mehr können. Vielleicht kann jedes Lebewesen nur eine bestimmte Menge Angst im Leben haben. Doch was kommt danach? Einzelne von uns gackern, manch ein federloser Flügelschlag, doch meist bleibt es ruhig. Ich sehe in Richtung dieses "Draußens", Licht fällt herein, die Welt bewegt sich vorbei, in Windeseile, erst nur helles Blau und etwas Weiß, das andere von uns den Himmel nennen. Dann Grün und Braun, das müssen dann wohl Bäume sein. Als die Bäume kommen wird das Schaukeln weniger, die Welt wird langsamer, immer langsamer und schließlich bleibt sie stehen.

Was nun? Seit langem fühle ich wie mein Herz wieder schneller schlägt, bis zum Hals. Angst, da ist sie wieder! Was passiert jetzt? wird es wieder schlimmer? Wieder diese Hände? Ich habe immer noch solchen Durst, alles in mir ist trocken, nicht nur außen staubig. Luft weht herein, da sind sie, diese Hände, aber sie greifen nur die Kiste, es schwankt und schaukelt, nur ein wenig doch spürbar. Der Himmel verschwindet, Grau und Braun erscheinen an seiner statt. Es riecht nach - mehr Stroh, viel mehr Stroh!

Abwärts!

Weich setzt die Kiste auf. Ruhe. Ungewissheit. Wieder: Was jetzt? Neben mir landet die zweite Kiste. Stimmen, nur ein paar, hohe und tiefe, aufgeregte und ruhige, die beiden vom letzten Schaukeln sind auch dabei.

Klack, klack, klack, Zittern durchfährt die Kiste und uns alle bei jedem "Klack"!
Klack, klack, klack, klack, klack, klack. Was soll das?!

Die Decke hebt sich, dann ist sie weg! Was jetzt? Was JETZT? LAUF!!! Raus aus der verbliebenen Schale, ich schreie, ich weiß nicht warum, ich tue es nur den anderen gleich! Dort vorne, die "Menschen", sie stehen da und glotzen! Ich laufe so schnell ich noch kann, aber wohin? Wohin? Und auf was? Auf ...was? Es fühlt sich plötzlich so gut an, es ist so weich. Seht nur Schwestern! Es ist echtes Stroh und so viel! Ich bleibe stehen und verweile...

Seht nur da vorne, dort sind andere von uns. Doch sie haben - Federn! Und sie sind - Dick! Hinter diesen gefiederten wohlgenährten Ausgaben unserer jämmerlichen selbst ist noch etwas:
Es riecht nach... Körnern... und... Wasser, oh es riecht tatsächlich nach frischem Wasser, ich bin so durstig. Noch etwas weht uns entgegen, etwas das schon kurz unser Begleiter war, frische Luft und es kommt aus dem kleinen Rechteck ganz hinten in der Ecke.

Ich kann nicht länger warten! Was ist schon Angst? Ich hatte so viel davon in meinem Leben und sie hat mir nie etwas gebracht, nie etwas erspart und mich nie vor etwas behütet. Ich habe Angst, ja, aber ich habe vor allem Durst.
Noch einmal stürmt, noch einmal Schwestern! Aber... ganz vorsichtig, an den fremden Hennen vorbei, sie gucken, verdutzt, mitleidig... wissend. Aber sie hacken nicht. Ein riesiger pechschwarzer Hahn! Egal! Wasser, ich brauche Wasser! Da ist es, hell und klar und viel! Endlich trinken, endlich Feuchtigkeit in meiner Kehle, in meinem Körper. Es tut so gut!
Also ist das hier wohl nicht das Ende. Die Stimmen sind weit entfernt, fast Dumpf, ein Säuseln, als ich meine Kopf aus der Tränke nehme.
Ich gehe vorsichtigen Schrittes auf das Rechteck frischer Luft zu, langsam, ganz langsam wird es vor mir größer. Ich strecke den Kopf hinaus, dann einen Fuß. Hier liegt kein Stroh, doch der Boden fühlt sich fantastisch an. Eine tiefe längst verloren geglaubte Stimme in mir drängt: Scharre, los scharre! Gleich, was ist hier noch? Da ist er wieder! Der Himmel! Hoch und hell und wunderbar! Weil er keine Angst macht, denn hier gibt es Bäume und Sträucher zum Verstecken und alles ist so weit, so frisch, so grenzenlos! Bin ich schon tot? Nein, ich fühle es, ich fühle, ja was eigentlich? Ich kenne das nicht. Es muss Hoffnung sein, Hoffnung, dass dies hier echt ist, Hoffnung das dies hier für mich ist...

... und leise höre ich eine der Stimmen hinter mir sagen: "Lass sie erst mal ankommen, jetzt sind sie ja in Noltanien..."








Willkommen in Noltanien und ein Leben wie im Märchen wünschen wir Euch!

Bis bald und